„Ist die aktuelle Entwicklung von Dagobertshausen nur ein Sonderfall, eine Übertreibung, oder hat die jüngere Geschichte des Ortes auch Relevanz für andere Gemeinden und Regionen?“, so die Frage zu Beginn des Buches: Dagobertshausen – Ausverkauf eines Dorfes? (Büchner Verlag) aus dem Jahr 2020. Nur wenig später steht die Antwort bereits fest: Ja, es gibt Orte, die ganz ähnlich zu Dagobertshausen mit den gleichen Zumutungen und Fehlentwicklungen konfrontiert sind. Kallstadt, ein Ort mit etwa 1.200 Einwohner*innen in Rheinland-Pfalz, ist so ein Ort.
Auch in Kallstadt an der Deutschen Weinstraße haben sich die Gesellschafter der Unternehmen der örtlichen Freizeitindustrie (Vila Vita etc.) im Jahr 2010 ein Gut zugelegt - kein Hofgut, sondern ein Weingut (Weingut am Nil), die Konzepte der Vermarktung unterscheiden sich kaum voneinander.
Gekauft wird auch in Kallstadt nahezu alles an Liegenschaften, was nicht niet- und nagelfest ist. Das hat in Kallstadt zu spürbaren Preissteigerungen geführt. Das Weingut am Nil besitzt inzwischen rd. 40 ha Weinberge, beim Hofgut in Dagobertshausen sind es bislang ca. 100 ha Land- und Forstflächen. Aber es reicht nicht. Regelmäßig werden (z.B. in der Oberhessischen Presse) Anzeigen für weitere Aufkäufe inseriert (s. unten). Ist das schon "Landgrabbing"? Der Begriff steht zwar für dramatischere Ankaufsstrategien - vor allem im Osten Deutschlands, aber tendenziell passt er auch für Kallstadt und Dagobertshausen.
Sicher ist: In Kallstadt wie in Dagobertshausen wird sukzessive die bereits im Bestand befindliche Eventgastronomie massiv weiter ausgebaut. Veranstaltungen, Tagungen, Hochzeiten - der Stil ist nahezu identisch: Hier die Dagobertshäuser Landpartie, dort das Kallstädter Löwenfestival, hier der goldene Spargel dort der goldene Wein. Allerorten: Riesenevents - hier mit Spitzenköchen, dort mit Spitzenwinzern. Veranstaltungsformen, Verkehr, Besucherzahlen - alles steigt explosiv - in Dagobertshausen wie in Kallstadt.
Und passen will das in beiden Orten nicht in die jeweils ländlich-dörfliche Umgebung.
Wird hier ein Franchise Modell aufgebaut („McDonalds für Wohlhabende“), das sich weitgehend uniform auch auf andere dörfliche Strukturen übertragen ließe mit den gleichen negativen Folgen?
Aber es gibt auch positive Gemeinsamkeiten:
Hier wie dort haben sich Bürgerinitiativen gebildet: Hier: Die Stadtteilinitiative (SI) Leben und Wohnen in DAGO und dort: Die Bürgerinitiative (BI) Steinacker (Kallstadt - Weingut am Nil). Beide Initiativen stemmen sich den Entwicklungen im Ort entgegen und erfahren breite Unterstützung innerhalb der Bevölkerung. In Dagobertshausen entfielen zuletzt 31% der abgegebenen Stimmen bei der Ortsbeiratswahl auf die kritische Stadtteilinitiative (Bürger*innenliste). Und die in Kallstadt unlängst gegründete BI hat in nur 5 Wochen weit über 250 Mitglieder für sich überzeugen können, was einem Anteil an der Bevölkerung von rd. 20% entspricht.
Beide Bewegungen müssen dabei heftig darum kämpfen, seitens der Politik - aber auch in den Medien wahrgenommen zu werden. Die Pohl’schen Unternehmen scheinen dagegen überall mächtige Unterstützer zu haben und anscheinend auch dort, wo man sie gar nicht vermutet hätte. So macht die Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) im Gewand des Journalismus kaum verblümte Werbung für die beiden Event-Locations:
Dagobertshausen: ABENTEUER DAGOBERTSHAUSEN: Ente gut, alles gut
„Der Weg nach Dagobertshausen liegt fünf Kilometer oberhalb von Marburg. Zum Hofgut gehört neben dem „Waldschlösschen“ und dem „Schlafgut“ mit acht Doppelzimmern ein Hofladen, die Kulturscheune und ein Sommergarten.“
https://www.faz.net/aktuell/reise/besuch-in-dagobertshausen-bei-marburg-16916802-p3.html
Kallstadt: DAS „WEINGUT AM NIL“: Das dreifache Rätsel von Kallstadt
„Noch nicht am Ziel, aber auf gutem Weg: Das Weingut am Nil in der nördlichen Pfalz besinnt sich auf seine alten Stärken und lässt sich dabei noch nicht einmal von Donald Trump beirren.“
In diesen "Berichterstattungen" kommen die Schattenseiten der expandierenden Freizeitindustriebetriebe für die anwohnende Bevölkerung in keiner Weise vor. Stattdessen wird alles aus einer sehr rosafarbenen Brille betrachtet.
Kallstadt steht unter Umständen noch bevor, was Dagobertshausen in nur zehn Jahren erfahren bzw. erleiden musste. Kallstadt kann hoffentlich noch vieles von dem abwenden, was in Dagobershausen kaum noch umkehrbar ist. „Kallstadt soll nicht zu Dagobertshausen werden“, sagen die Kallstadter und die kritischen Dagobertshäuser wollen sie dabei nach Kräften unterstützen. Man befindet sich im regen Austausch. Der Dialekt der Pfälzer sei teilweise schwer verständlich, sagen die Hessen - aber davon einmal abgesehen - können wir hier jedes Wort von dem verstehen und nachvollziehen, was dort gesprochen wird.
Auch wenn die unselige Entwicklung in Dagobertshausen bereits viel weiter fortgeschritten ist als in Kallstadt, so ließe sich doch - auch hier - noch einiges verhindern. Stadtteilinitiative und Ortsbeirat sind mittlerweile auf einem gemeinsamen Weg dazu (siehe oben).
Aber man muss leider auch feststellen, dass Dagobertshausen durch die Entwicklung der letzten Jahre in gewisser Weise zu einem Negativbeispiel geworden ist. Negativ ist, dass die Marburger Politik das alles nicht nur zugelassen, sondern sogar massiv befördert hat. Positiv ist aber zugleich, dass sich Teile der Dagobertshäuser Bevölkerung zur Gegenwart hin aktiv gegen eine weitere Expansion der Freizeitindustrie wehrt. Kallstadt hat dabei im Vergleich zu Dagobertshausen früher und massiver auf die Zumutungen reagiert. Wenn man also zusammenfassend von Vorbildern sprechen möchte könnte man sagen: Kallstadt soll (am Ende) nicht zu Dagobertshausen werden - aber Dagobertshausen muss jetzt endlich auch mal mehr zu Kallstadt werden!